Ein Weinfestmärchen - von Marcus Lehmann

Nino sagt zu Vino nie No – das Chemnitzer Weinfest-Märchen

Die Stadt Chemnitz hatte vieles: Einen gleichnamigen Fluss, der sich durch die City schlängelt, viel Grün, Teiche, Bäder, Einkaufszentren, Kultur und Arbeitsplätze. Sie war keine Weltstadt, aber ein guter Ort zum Leben, zum Kindermachen und um sie großzuziehen.

Nur eines machte die Chemnitzer traurig: Sollte der Klimawandel es nicht Realität werden lassen, würden sie wohl nie eine Weinregion werden. Weinhänge wie in Pirna würde es auf dem Adelsberg nicht geben. Gemütliche Rebengänge würden dem wunderschönen Kaßberg keine neue Attraktion hinzufügen.

Aber da die Chemnitzer nun einmal gerne Wein tranken und das Savoir-Vivre nicht nur im Elbland und an der Mosel zuhause sein musste, stellten Sie auch ohne Südhanglage ein Weinfest auf die Beine. Für ein paar Wochen konnten die Weinliebhaber der Stadt glatt vergessen, dass Elbe, Rhein und Saale weit entfernt waren. Denn sie alle waren hier: Abgefüllt in Flaschen, an Ständen verkauft in den Farben Rot, Weiß und Rosé.

 

Sabine LIEBTE das Weinfest. Für sie war es wie ein kleiner Urlaub, für den sie nur in die Linie 2 steigen musste. Kein Koffer, kein Flug, keine lange Autofahrt notwendig.

Sabine nannte sich selbst manchmal scherzhaft einen Weinfest-Ultra: Wann immer es ihre Zeit zuließ, ging sie, ob nach der Arbeit oder am Wochenende, auf ein oder zwei Schoppen in die Innenstadt.

 

Aber diese Woche hatte es einfach nicht klappen wollen. Sie hatte ihre Mutter zum Doktor fahren müssen, die Katze zum Tierarzt, das Auto in die Werkstatt. Alles musste gewartet werden – und sie musste warten. Selbst am Samstag war sie unterwegs, ihre Freundin Carola hatte Geburtstag gefeiert und wollte dafür unbedingt raus aus der Stadt: Sabine war das unverständlich.

Und so kam es, dass sie es erst spät am Abend in die Innenstadt schaffte. Auf direktem Weg ging sie in Weinlounge am Jakobikirchplatz. Hier neben der Kirche, umschlossen von urbaner Architektur und unter den Kirschbäumen, fühlte sie sich so richtig mediterran. Scherzhaft nannte sie diesen Ort "Jakobi-Plaza", weil ihr am Abend so luftig-leicht zumute war, weil die Gesichter der Menschen so gelöst wirkten wie in den Dokumentationen über Italien.

 

Doch heute Abend war der Plaza leer: Keine Menschenseele war zu sehen. Die Bänke waren leer, die Buden zu, nur die Lichterketten leuchteten noch in den Bäumen. Es war ein einsamer Ort und Sabine, die sich die ganze Woche darauf gefreut hatte, kamen die Tränen.

Sie setzte sich auf einer der Bänke. Auf dem Tisch standen zwei traurige Weingläser, die jemand hatte stehen lassen. Sie wollte doch nicht viel vom Leben: Ein Gläschen Wein in angenehmer Gesellschaft nach einer anstrengenden Woche. Ein wenig mediterranes Lebensgefühl! War das zu viel verlangt?!

 

Wie aus dem Nichts setzte sich ein großer Mann neben sie. Seine schwarzen Locken waren wild und dicht. Auch sonst hatte er nicht wenig Haar: Ein etwas struppeliger Vollbart bedeckte sein Gesicht, aus dem weit geöffneten weißen Hemd quoll dunkle Fülle. Seine Haut war gebräunt, die Augen dunkel und keck, die Schultern kräftig.

 
"Ist doch in Ordnung, dass ich mich hier hinsetze, oder?"
, fragte der Mann.

 Sabine schaute ihn an wie ein Reh, dass sich vor dem Aufprall mit einem Auto nicht mehr rühren kann. Sie nickte nur leicht.

 "Mein Name ist Nino. Und wie heißt Du, schöne Frau?"

 Sabine schluckte. Irgendwas an diesem Mann ließ sie nicht nur erröten, sondern regelrecht kochen.

 Mit fast erstickender Stimme antwortete sie nur: "Sabine."

 "Schön, Dich kennenzulernen, Sabine. Was willst Du trinken?"

 "Bacchus", bekam sie wieder nur heraus. Es war das erste, das ihr einfiel.

 "Ah, das ist eine Beleidigung dieses großen Namens. Komm, ich schenke Dir mal etwas von meinem Wein ein."

 

Sabine schaute ihn wieder großäugig an. In dem Moment tippte Nino an die zwei Gläser auf dem Tisch und sie füllten sich – wie von Zauberhand – mit einem vielfältig schillernden Weißwein.

 Nino hob sein Glas, Sabine machte es wie automatisch nach. Dann setzte sie es an ihre Lippen und trank. Der Geschmack explodierte in ihrem Mund. So eine Vielfalt aus Früchten, Trauben, einer eleganten Säure, einer milden Metalligkeit hatte sie noch nie getrunken. Dieser Wein war so leicht und zugleich komplex, dass Sabine schwindelig wurde. Gleichzeitig löste sich ihre Zunge: Sie spürte förmlich, wie ihre Kehle nicht mehr trocken war und sich alles leichter in ihr anfühlte. Ihre Traurigkeit war verraucht und auch die Hitze, die ihren Kopf und ihr Dekolletee hatten feuerrot werden lassen, wich einer wohligen Wärme, die ihren ganzen Körper durchströmte.

 

"Und, was denkst Du?", fragte Nino sie. Sabine grinste ihn nur breit an.

 

"Fantastisch!", sagte sie und trank noch einen Schluck. Und noch einen. Und ehe sie es richtig bemerkte, war das Glas schon leer – und Sabine peinlich berührt.

 

"Oh, das ging jetzt aber schnell", sagte sie nur, als sie das Glas abstellte.

 

"Zu Vino sagt man nie no, wie?", sagte Nino lachend, als er ihr Glas wieder zu sich herüberzog, "und schau, Du kannst ja ganze Sätze sprechen."

 

"Und Du kannst uns mal schön eine neue Runde herbeizaubern", antwortete Sabine forsch und wusste selbst nicht, wo das plötzlich herkam. Nino lachte nur schallend und sagte: "In vino veritas!"

 

Mit zwei kleinen "Plings" füllte er die Gläser wieder auf. Bei einem weiteren Wisch seiner Hand kam eine Band mit Gitarren hinter einem Weinstand hervor. Sie sangen italienisch oder griechisch, Sabine wusste das nicht genau. Grillen fingen an zu zirpen, ein warmer Windhauch umschmiegte ihre Wangen. Ein Schnipser nach oben und aus den grauen Wolken wurde ein funkelnder Nachthimmel: So viele Sterne hatte Sabine noch nie gesehen. Ein Schnipser zur Wasseranlage und – wie konnte das sein?! – abwechselnd rote, roséfarbene und weinweiße Flüssigkeit schoss in die Nacht. Noch ein magischer Wisch und eine Antipasti-Platte stand vor ihnen.

 

"Hör endlich auf zu denken, Sabine", flüsterte Nino, während er ihr eine Olive anbot, "und fange an, zu genießen."

 

Sabine wusste nicht, wie ihr geschieht. Das ging ihr alles viel zu schnell! Statt sich fallen lassen zu können, stieg Panik in ihr auf. Ist das real? Wer war dieser Nino eigentlich, der sie hier verzauberte?!

 

"Ich muss, äh, mal", sagte Sabine plötzlich und stand auf. Dabei schubste sie fast die Weingläser um. Nino schaute sie überrascht an.

 

"Klar, kein Problem", sagte er sanft, "ich warte hier auf Dich."

 

Sabine hatte beschlossen, ihn lange warten zu lassen. Von der Toilette aus ging sie direkt zur Zentralhaltestelle und fuhr nach Hause.

 

 

Am nächsten Morgen war sich Sabine sicher, dass sie das alles geträumt hatte. Sie hatte es gestern gar nicht aufs Weinfest geschafft. Bloß ihre Wünsche hatten sie im Schlaf eingeholt. Heute würde alles wieder normal sein.

 

Sabine schaute beim Frühstück auf ihr Tablet und las die Meldungen des Tages. Unfälle, ein Brand, Promis, die andere Promis heiraten und sich wieder scheiden lassen – so weit so alltäglich. Aber dazwischen auch: "Weinfest diesen Sonntag unterbrochen. Grund: Weinvorräte über Nacht verschwunden."

 

Vor Schreck ließ Sabine ihren Kaffeebecher fallen. Die heiße Flüssigkeit verteilte sich auf ihrem Morgenmantel und auf dem Boden. Sabine aber starrte nur gebannt auf das Display: Hatte Nino etwas damit zu tun? Hatte sie das gestern Nacht doch nicht nur geträumt? Sind die Weinvorräte gestern verschwenderisch durch den Brunnen gerauscht?

 

Sie konnte das gar nicht glauben. Sie musste in die Stadt fahren und selbst prüfen, ob es stimmt, dass das Weinfest heute geschlossen hat.

 

Die Innenstadt wirkte unbelebt. Nur ein paar Familien gingen Eis essen, Freunde trafen sich in den Restaurants. Aber auf dem Jakobi-Plaza herrschte Stille: Wieder waren die Tische leer, die Stände verriegelt. An einem hing ein Zettel: "Heute geschlossen."

 

Sabine musste sich wieder setzen. Diesmal nicht vor Trauer, sondern aus Panik. Hatte sie damit etwas zu tun, dass das Weinfest heute geschlossen hatte? Sie, der Weinfest-Ultra?!

 

Plötzlich hörte sie hinter sich eine gewohnte Stimme: "Hallo Sabine, ich hatte Sorge, wir sehen uns nicht wieder."

 

Sabine drehte sich um und da sah sie ihn: Nino. Er trat zu ihr und hatte zwei Gläser in der Hand.

 

"Warum bist Du gestern Abend einfach gegangen?", fragte er, als er sich neben sie gesetzt hatte.

 

"Das ging mir alles zu schnell", antwortete Sabine ehrlich, "ich wollte nicht zu einer Dummheit verführt werden."

 

"Alles, wozu ich Dich verführen wollte, war ein Glas Wein", antwortete Nino, "nun gut, oder zu ein paar Gläsern. Aber ich würde niemals nicht mit einer Frau etwas gegen ihren Willen tun, das gehört sich nicht. So etwas tut nur mein Vater."

 

"Dein Vater?", fragte Sabine. Musste er ihr jetzt von seinem Familiendrama erzählen?!

 

"Du wolltest gestern seinen Wein trinken", antwortete Nino.

 

"Den Bacchus? Ach so, warst Du deshalb so drauf? Gibt es die Rebsorte auf dem Weingut Deiner Familie oder so etwas?"

 

Nino zog eine Augenbraue hoch, dann lachte er laut auf.

 

"Nein, Du hast mich falsch verstanden. Der Wein heißt wie mein Vater."

 

"Bacchus? Kein Mensch heißt so. War das nicht der Name dieses Gottes der Griechen oder Römer? Der Gott des Weines oder so?"

 

"Richtig. Mein Vater ist der Gott des Weines, der Freude, der Trauben, der Fruchtbarkeit, des Wahnsinns und der Ekstase. Er ignoriert, was jemand will, er nimmt sich nur und achtet nicht auf die Wünsche Anderer", sagte Nino mit Bitterkeit in der Stimme.

 

"Du nimmst mich auf den Arm", sagte sie da, "und Du hältst Dich wohl auch für einen Gott, oder was?"

 

In dem Moment nahm Nino sein Glas, trank es in einem Zug aus, stellte es wieder ab und tippte daran: Schon füllte es sich mit einer tiefroten Flüssigkeit, genau wie gestern.

 

Sabine schaute wie ein Karpfen. Es war also doch kein Traum gewesen. Sie hatte das wirklich erlebt. Sie hatte einen Gott sitzen lassen.

 

"Ich bin kein großer Gott, nur ein kleiner. Mein Aufgabengebiet ist, sagen wir, SEHR spezifisch", erzählte Nino, "Ich bin der Gott der Weinfeste, die nicht in Weinregionen stattfinden."

 

Sabine stutzte. "Dafür braucht es einen Gott?"

 

Nino wirkte etwas beleidigt, dann seufzte er.

 

"Vermutlich nicht. Aber so bin ich weit weg von meinem Vater. Er wollte mich damit strafen, mich nach Chemnitz und in andere Städte in Europa zu verbannen, wo Wein mit dem LKW kommt. Aber stattdessen hat er mir einen großen Gefallen getan: Ich bin frei und kann tun und lassen, was ich will. Ich liebe Wein wie er, aber ich brauche keinen Wahnsinn und keine Ekstase. Ich brauche Freundschaft, Leidenschaft und einfach eine gute Zeit ohne, dass jemand wegen mir ein schlechtes Gewissen haben muss. Und die Menschen sind glücklich über ihre Weinfeste. Was will ich also mehr?"

 

Sabine schwieg. Ihr wurde bewusst, dass sie Nino Unrecht getan hatte. Vielleicht stimmte das alles ja. Und warum sollten Götter nicht auch einfach Freunde haben wollen?

 

Sabine musste lächeln. "Wenn das so ist, was will ein Gott wie Du mit einer einfachen Frau wie mir?"

 

Nino strahlte sie an. "Noch ein Glas trinken. Und, nur wenn Du magst, danach ein wenig tanzen."

 

Am nächsten Montag ging das Weinfest weiter. Im Radio hieß es, dass die Winzer ihre Fässer plötzlich wieder gefunden hatten und alles wieder seinen gewohnten Gang gehen würde.

Ob Sabine also wirklich etwas damit zu tun hatte? Ob es Nino wirklich gibt und seine göttliche Wut das Weinfest getroffen hatte? Wer weiß. Aber wenn Dir einmal ein Nino auf dem Weinfest begegnet, weißt Du: Zu einem Nino sagt Du besser nie No.